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Mythencocktail und Götterspeise Was
sich Neuromarketingstrategen aufgrund „neuester Forschungsergebnisse“ auf
ihre Erfolgsfahnen schreiben ist eine schlichte Erkenntnis und in Wahrheit
ein alter Hut: Der Mensch will Geschichten. Nichts nimmt er so nachhaltig
auf, wie Geschichten. Alles, was in die Form einer Geschichte gekleidet ist,
verstehen wir besser und behalten es langfristig. Die Antworten auf Kernfragen nach dem
Urgrund allen Seins werden in großen epischen Geschichten gesucht, deren Protagonisten mit übermenschlichen
Fähigkeiten und allzu menschlichen Schwächen ausgestattet sind, den Gesetzen der Physik trotzen, aber von
ihrer Eitelkeit besiegt oder der Eifersucht heimgesucht werden. Am Anfang
steht der Götterwille, er formt, schnitzt, schmiedet oder kocht sogar – aus
dem allen Anfang bildenden ersten Milchtropfen – in den verschiedenen
Schöpfungsmythologien die Urformen aller Einzelerscheinungen, bis nach und nach alle Wesen und Dinge ihren Platz finden und das gesamte Himmels-
und Erdenvolk in einer großen
Familiensaga umeinander wuselt. Zum
Thema Mythen hängen derzeit in der Lindauer Galerie Skulpturale zwei
wandfüllende, farbenprächtige Gemälde, Momentaufnahmen aus Homers Odyssee und
Ovids Metamorphosen neben zwei weiteren kleineren, „mittelformatigen“ Bildern mythologischen Inhalts. Das
erste Großformat thematisiert die listig über dem Ehebett angebrachte Falle
aus Blitzen, in welcher Hephaistos seine untreue Gattin Aphrodite mit deren
Geliebten Ares gefangen hält, um die beiden dem Gespött der übrigen
herbeigerufenen Götter preiszugeben, deren nicht enden wollendes Gelächter
Homer beschreibt.(„Das homerische Gelächter“) Das
zweite greift die Geschichte des Jägers Aktaion auf, welcher, nachdem er die
Göttin der Jagd, Diana, beim Bade überrascht hat, von dieser zur Strafe in einen
Hirschen verwandelt und daraufhin von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird.
(„Diana und Aktaion“) Schöpfer
dieser eindrucksstarken Werke ist der Dresdener Maler Florian Teichmann,
welcher, souverän sich der verschiedensten Malstile bedienend, die
klassischen Themen und Allegorien der Mythenwelt vom Staub der Salonmalerei
befreit und ihnen ein frisches, zeitgemäßes Erscheinungsbild abringt. Mit
einem Mal gehen uns die Geschichten und ihre Gestalten wieder etwas an, wenn
z. B. der in seiner Gestalt gefangene Zentaur in den Kontext des narzistisch
perversen Päderasten gerückt und zur seelenverkrüppelten,
hilflosen Chimäre wird. („Am Morgen des Triumphes“) Neben
dem hermeneutischen Raffinement inhaltlicher Deutungsmöglichkeiten, kann Teichmann auch auf der malerischen
Ebene ebenso souverän mit Stilbrüchen aufwarten, welche ganze Epochen der
Malerei überbrücken. Der sich unterwürfig räkelnde, wie ein
Flickerlteppich-Bettvorleger getupfte bunte Hund unter den „WesselmannMel
RamosBrüsten“ – ein farblicher wie ikonoklastischer Molotowcocktail. Hier
brennt´s zur Freude des Betrachters. Es wird der Kunst- und Kulturgeschichte
eingeheizt. Neues Feuer statt abgestandenem Rauch. Für Hellas das hellste
Vergnügen. Eine
treffende Auswahl von Wolfgang Ueberhorsts Skulpturen unterstützen die
Bilder, unterstreichen deren Eleganz oder kitzeln besondere Feinheiten
heraus. Die „Barcarola“ (dt. etwa:
der Äppelkahn) strandet unmittelbar vor Teichmanns „Argonauten vor
Lemnos“. Diese Bilder und Skulpturen passen
hervorragend zueinander; es mag so
aussehen, als seien sie „für einander angefertigt worden“, in Wahrheit liegen
etliche Jahre zwischen den Entstehungszeiten. Besonders
mit seinen Scharnierarbeiten vermag Ueberhorst der gesamten Ausstellung
eine heitere Note zu verleihen. Wer
mit dem komplexen Werk dieses Bildhauers vertraut ist, kann nachvollziehen,
daß „ die Scharniere“ auf den rhythmischen und räumlichen Entwicklungen der
sogenannten „polygonalen Löcher“
(H.-J. Pieper) aufbauen und diese gedanklich weiterführen. Insbesondere
der Gedanke der „Ideomotorik“ (Robert Jacobsen) einer Bewegung, die aufgrund der Anordnung
der einzelnen Elemente im Raum lediglich im Auge des Betrachters stattfinden
sollte, einer erlebbaren geistigen Eigenbewegung also, die im radikalen Gegensatz zu kinetischen Skulpturen (Rickey), Mobiles (Calder)
oder Maschinenskulpturen (Tinguely, Luginbühl) stand, wird von Ueberhorst von einem
dogmatischen Entweder – Oder zu einem spielerischen Sowohl-als-auch
überzeugend abgewandelt. Es sind hierbei die radialen Achsen der einzelnen
Scharniere, welche die genannte „ideomotorische“ Bewegung um den entsprechenden Radialraum erweitern.
Dadurch gelingt es Ueberhorst im Bewusstsein des Betrachters soviel
zusätzliche Bewegungsvorstellung anzuhäufen, daß seine Werke, weit hinaus
über die Motorik, welche in der erlebenden Betrachtung der Teile und deren Anordnung
liegt, zu dynamisch höchst komplexen Gesamtgebilden werden. Ein
schmunzelnder Hinweis auf den Himmel als kosmisch-göttliche Wohnstatt und
dessen Licht als Götterspeise sind Wolfgang Ueberhorsts „Moondrawings“.
Photographien, bei welchen er den Vollmond
als Fixpunkt benutzt und die Kamera bei geöffneter Blende langsam hin
und her bewegt hat, so daß der Mond eine Lichtspur in Gestalt einer
Liegenden, eines Liebespaares, Portraits, Totenkopfes oder des Schriftzuges
„gut“ auf der Mattscheibe hinterläßt. Der
Schriftzug würde allerdings als Urteil für die Gesamtausstellung nicht
hinreichen; jenes dürfte – nicht
zuletzt aufgrund der abwechslungsreichen Bezüge der Werke untereinander
– ohne weiteres „sehr gut“ heißen. Arturo
Eskuchen Lindau,
3. Juni 2015 Mythencocktail
und Götterspeise II Im Anschluß
an die Art Bodensee sind in der Galerie Skulpturale teilweise neue Exponate
gehängt worden. Unter Einbindung weiterer Künstler fügt die Änderung
neue mythologische Aspekte hinzu. So finden wir neben dem großen Jagdgemälde
Diana und Aktaion von Florian Teichmann nun auch einen bronzenen Tierschädel,
betitelt „Perückenbock“ von Biwi Köppel.
Entstanden ist er 1998 aus mit Gips ausgegossenen Plastiktüten und diversen
Kiwiranken. Der Titel weist auf ein in der Natur realiter vorkommendes
Phänomen hin, wonach sich bei einem durch Weidezäune, Unfälle oder
Revierkämpfe „entmannten“ Tier anschließend eine seltsame, perückenähnliche
Verzweigung des Geweihs entwickelt. Der „Radikalentmannug“ des Jägers
Aktaion, der sich am Anblick der nackten Diana beim Bade ergötzt und zur
Strafe dafür als Futter für seine eigenen Jagdhunde endet, ist der
blühende Auswuchs der Entmannung beim „Perückenbock“ hinzugefügt und
als Jagdtrophäe hoch oben über einem Monitor aufgehängt. Auf diesem
läßt Harald Hoppe eine Reihe verschiedener Videos laufen, von denen zwei kurz
beschrieben werden sollen: 1. Ein Jagdweg wird
mit genau einhundert Stundenkilometern befahren, das Fahrzeug springt
bockartig über die Schlaglöcher, Schlamm spritz bis übers Dach – im Studio
wird der Film dann künstlich verlangsamt. Die Fahrt wirkt anschließend völlig
real, aber von unerklärlicher, überbordender Intensität. 2. Auf der
Jagd nach Erkenntnis und wie in einem modernen Höhlengleichnis fährt ein Auto
durch die Unterwelt einer leeren Tiefgarage. Anstelle an die Wände
geworfener Schatten sieht der an sein Fahrzeug gefesselte Protagonist immer
neu angeordnete Lichter aufblitzen, Lichter, die ihre relativ zum
jeweils angefahrenen Punkt ständig wechselnden Koordinaten durch den gesamten
Galerieraum schicken. Das Licht (Götterspeise)
wird Teil der Höhle und erhellt lediglich den objektfreien Raum selbst,
Glaubt man den Ausweg gefunden, beginnt der Loop von vorne. Ich sehe, daß ich nichts weiß. Arturo
Eskuchen Lindau,
15. Juli 2015 |
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